Dieser Text ist zuerst erschienen im Heidewanderer der Allgemeinen Zeitung Uelzen im Februar 2021.
Seit 1996 gedenken die Menschen in Deutschland am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau (27. Januar 1945) aller Opfer des NS-Regimes. Die Geschichtswerkstatt Uelzen e. V. organisierte in den vergangenen Jahren zusammen mit der Hansestadt Uelzen jeweils am 27. Januar eine Veranstaltung im Rathaussaal und am Mahnmal für die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft. Dieses Jahr ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus still verlaufen. Eine öffentliche Veranstaltung konnte wegen der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Epidemie nicht stattfinden. Die folgenden Ausführungen zur Geschichte der Familie Heinemann stellen einen späten Beitrag zum Gedenktag dar, verbunden mit der Aufforderung, Entrechtung und Verfolgung in der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nicht zu vergessen und für eine tolerante und demokratische Gesellschaft zu werben.
Josephine und Karl Heinemann
Uelzener jüdischen Glaubens
respektiert – gedemütigt – beraubt
Vorbemerkungen
Ich lernte 2006 Paul Heinemann, ein Enkel Karl Heinemanns, anlässlich einer Ausstellung über die jüdische Gemeinde Uelzen im Foyer des Rathauses kennen. Zwischen mir und Paul Heinemann entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung, die leider mit dem Tod Paul Heinemanns 2011 endete. Bald nach seinem Tod erhielt ich von der Witwe, Anita Heinemann-Rogin einen Nachlass, der aus Briefen und Dokumenten seiner Eltern und Großeltern bestand.
Die Sichtung der Restitutions- und Entschädigungsakten im Niedersächsischen Landesarchiv Hannover wie auch im Bundesarchiv Berlin ergab, dass die Großeltern Heinemann am Ende ihres Lebens durch den NS-Staat erniedrigt und beraubt, ihre Kinder (besonders Hermann und Julius durch die Gestapo und französische Polizei) gedemütigt und vertrieben wurden.
In diesem Artikel will ich mich auf die Darstellung der Geschichte des Ehepaares Karl und Josefine Heinemann und die ihrer Beraubung konzentrieren. Zu einem späteren Zeitpunkt sollen die Lebenswege ihrer Kinder Gertrud, Hermann und Julius beschrieben werden.
Karl Heinemann – erfolgreich im Beruf – engagiert im sozialen und politischen Umfeld
Karl Heinemann, geboren am 22. März 1856 in Hannover, wohnte ab 1904 in Uelzen. Heinemann war bei der Reichsbahn beschäftigt, zuletzt in der Position eines Regierungsbaurates/Reichsbahnrates. FOTO 1, FOTO 2 Er war verheiratet mit Josephine Heinemann, geb. Nathan, am 21. Dezember 1861 in Deutsch-Jägel /Schlesien geboren. Das Ehepaar Heinemann heiratete am 31. Dezember 1899 in Altona, das zu diesem Zeitpunkt noch zum Königreich Preußen gehörte.
Als Eisenbahner musste Heinemann oft seinen Arbeitsplatz wechseln, so dass seine Kinder in verschiedenen Orten zur Welt kamen: Gertrud (* 6. Februar 1892) und Hermann (* 24. Mai1894)1 in Frankfurt am Main, Julius (* 24. August 1896) in Lennep2 [heute ein Stadtteil von Remscheid d. V.]. Alle drei Kinder besuchten in Uelzen weiterführende Schulen, Hermann und Julius das Realgymnasium in Uelzen, Gertrud vermutlich das Lyzeum am Herzogenplatz.
In Uelzen, um die vorletzte Jahrhundertwende ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt, arbeitete Heinemann von 1904 an durchgehend bis zu seiner Pensionierung, die vermutlich Anfang der 1920er Jahre erfolgte. Heinemanns wohnten zunächst in einer Dienstwohnung der Bahn in der Hoeftstraße 16, zogen später für kurze Zeit übergangsweise in eine Wohnung in der Lüneburger Straße, um dann schließlich und endlich ihren Lebensabend im ersten Stockwerk der „Weddeschen Villa“ in der Ebstorfer Straße 37 (Ecke Linsingenstraße/Ebstorfer Straße) zu verbringen, eine großzügig Fünfzimmer-Etagenwohnung, in der sich das Ehepaar vermutlich wohl fühlte und das sie sich gut „bürgerlich“ eingerichtet hatten.4
Heinemann setzte seine Karriere in Uelzen als Eisenbahnbetriebsinspektor fort und ging schließlich als Regierungsbaurat/Reichsbahnrat in den Ruhestand. Er arbeitete in leitender Funktion zusammen mit 13 Kollegen im Eisenbahnbetriebsamt Uelzen. Im gesamten Bereich des Betriebsamtes Uelzen arbeiteten damals 950 Menschen. Nach reichsbahninternen Angaben (1941) gab es insgesamt 419 Ämter dieser Art im Bereich des Deutschen Reiches. Aufgabe des Betriebsamtes war es, die Gleisanlagen, die für den Betrieb notwendigen Anlagen und Gebäude zu unterhalten und bei Erweiterungen und Neubau die ausführenden Unternehmungen zu unterstützen. Das Gleisnetz des Uelzener Betriebsamtes umfasste 215,24 km.
Uelzen war nach dem Eisenbahnbetriebsamt Hannover und Salzwedel das drittgrößte Amt im Bereich der Reichsbahndirektion Hannover. Trotz einer anderen politischen und wirtschaftlichen Situation, wie sie vor und während des Ersten Weltkrieges herrschte, kann man sich eine ungefähre Vorstellung von dem Tätigkeitsfeld Heinemanns machen. Die wieder aufgefundene Fachliteratur zeigt deutlich die Schwerpunkte seines beruflichen Interesses.
Ehepaar Heinemann nahm Anteil am politischen und sozialen Leben der Kleinstadt und besonders Karl Heinemann engagierte sich in verschiedenen Organisationen und informellen Gruppen an führender Stelle. Vermutlich angeregt von seinen Söhnen Hermann und Julius, die Mitglieder im Uelzener Wandervogel waren, begleitete er zusammen mit anderen Uelzener Honoratioren wohlwollend die Gründung des Uelzener Wandervogels.
Die Gründung der Ortsgruppe fand 1908 auf dem Fischerhof statt, also an einem für diesen Verein passenden Ort. An diesem Geburtstag stellten sich renommierte Uelzener Bürger als „Paten“ zu Verfügung: Neben Ernst Rädicke, Dachpappenfabrikant, Heinrich Stender, Molkereidirektor, Oskar Schlemm, Amtsgerichtsdirektor, eben auch Karl Heinemann, damals noch Königlicher Eisenbahn-Bau und Betriebsdirektor. „Sie bildeten den Eltern- und Freundesrat der Ortsgruppe“, der seine schützende Hand über die Jugendgruppe hielt, die von dem jungen Lehrer Sievers geleitetet wurde und den Unwillen zahlreicher konservativ gesinnter Lehrer des Gymnasiums hervorrief.Nach dem Weggang Sievers „übernahmen Primaner die Führung der Gruppe, zu denen vermutlich auch Hermann Heinemann gehörte, der 1913 sein Abitur am Uelzener Realgymnasium machte.
Das Wandern bot den jungen Menschen, die sich im Wandervogel zusammenfanden, die Möglichkeit, einen neuen, anderen Lebensstil auszuprobieren. “Man wandte sich generell gegen einen Ausverkauf der ideellen Lebenswerte“ und hielt Abstand zum materiellen Denken des Normalbürgers.
Heinemann nahm auf Grund seines fortgeschrittenen Alters nicht am Ersten Weltkrieg teil, dafür seine beiden Söhne, die als Offiziere aus dem Krieg zurückkehrten und glaubten, wie viele der jüdischen Kriegsteilnehmer, ihre Loyalität Deutschland gegenüber damit endgültig unter Beweis gestellt zu haben.
Nach Kriegsende stellte sich Karl Heinemann den Fragen der Zeit und engagierte sich ab 1918 im Uelzener Arbeiter- und Soldatenrat, in den er am 30. November 1918 als Vertreter der Beamtenschaft zusammen mit Oberlehrer Teichmann, Postsekretär Erlekampf und Schaffner Zenk gewählt wurde.
Mit Einbeziehung bzw. Kooperation mit dem Bauernrat des Kreises Uelzen, dem Vertreter der Gemeinden angehörten, stellte man den Arbeiter- und Soldatenrat auf eine breite gesellschaftliche Basis. Der Rückhalt bei der ortsansässigen Bevölkerung bei Bewältigung der sozialen und wirtschaftlichen Probleme der ersten Monate nach der Kapitulation, wie „die Versorgung mit Lebensmitteln und Brennmaterial für den Winter, Arbeitsbeschaffung, Kampf dem Wucher und Schwarzmarkthandel….“, war gegeben.
Wie lange Heinemann dem Arbeiter- und Soldatenrat angehörte, ist nicht bekannt. Spätestens jedoch nach der ersten Kommunalwahl übernahmen gewählte Gemeindevertreter die Aufgaben des Arbeiter- und Soldatenrates, dessen Mitglieder wichtige Grundlagen für den Aufbau einer funktionierenden Demokratie auf kommunaler Ebene gelegt hatten.
Nach seinem Engagement in der Politik zog sich Heinemann jedoch nicht aufs Altenteil zurück, sondern wurde am 8. Februar 1923 zum Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Uelzen gewählt, eine Aufgabe, die er bis 1938 wahrnahm. Ihm zur Seite stand der jüdische Religionslehrer Hirsch Bachenheimer, der das Amt des Rechnungsführers und Schächters in der Gemeinde bekleidete. Heinemann übernahm den Vorsitz der Jüdischen Gemeinde Uelzen in einer Phase, in der die Zahl der Gemeindemitglieder ständig sank. So lag die Zahl der Gemeindemitglieder um 1900 bei 93 Mitgliedern, jedoch nur mit 18 beitragspflichtigen Gemeindemitgliedern. Bei Amtsantritt Heinemanns im Jahr 1923 betrug die Zahl der Gemeindemitglieder nur noch 70 „Seelen“, bei jedoch 28 zahlenden Mitgliedern. Von da an sank die Zahl der Gemeindemitglieder kontinuierlich bis zur Übergabe des Vorsitzes an Max Lerner im Jahr 1938.
Zwischen den Eltern Heinemann und ihren Kindern Gertrud, Hermann und Julius und deren Lebenspartnern bestand ein tiefes inniges, vertrauensvolles Verhältnis, soweit man das den Briefen entnehmen kann. Unmittelbar nach der Rückkehr von einer Reise nach Frankreich meldete sich Josephine Heinemann bei ihrer Schwiegertochter und ihrem Sohn. So sei ihr erster Gedanke und ihr erstes Tun, „Euch zu sagen, wie befriedigt ich von dem Besuch in Eurem Familienmilieu zurückgekommen bin und wie gerne ich an diese leider so kurze Zeit zurückblicke“. Nun erst könne sie mitfühlen, so Josephine weiter, da sie nun wüsste, wie sich das tägliche Leben in Traverny [einem kleinen Ort nordwestlich von Paris d. V.] abspiele. Als „schönstes Bild aus dem Rahmen des dortigen Geschehens ist…. Lili, ein Kind an der Brust, (und) eins mit großen Augen daneben. Man versteht bei solchem Anblick den Madonnenkult. Allen dort in Traverny wünsche ich allen Segen über Euch und Euer Glück.“
Karl Heinemann gab in einem Brief an seinen Sohn Julius, der nach seiner Flucht aus Deutschland seit 1934 eine kleine Obstplantage in Frankreich bewirtschaftete, Ratschläge für eine korrekte Baumpflege im Winter. Jedoch war in diesem Brief nicht mehr von den Freuden des Kegelklubs, von den Kontakten zur Skatrunde zu lesen und er klagte „nur“ über die ungelöste Wohnungsfrage: „Unsere Wohnungsfrage befindet sich im Stadium völliger Ungewissheit und Ungelöstheit. In der nächsten Zeit hoffen wir aber auf Entscheidung….“3 Hintergrund dieser Ungewissheit ist vermutlich der anstehende Auszug aus der Wohnung Lüneburger Straße. Unbekannt bleiben die Gründe für diese prekäre Situation. Waren es Beschwerden der Nachbarschaft, waren es Streitigkeiten mit dem Vermieter, die mit dem Juden Heinemann nichts (mehr) zu tun haben wollten? Wir wissen es nicht, doch bleibt dem Leser der resignative Stil nicht verborgen, in dem der 76-Jährige diesen Brief schrieb.
Im Sommer 1938 meldete sich Heinemann schriftlich an seinen Sohn Julius aus der Wohnung, in der er dann bis zu seinem Tod im August 1939 wohnte. In diesem Brief erwähnte er nur kurz die Erkrankung seiner Frau. Besorgt erkundigte sich der 82-Jährige erneut nach den betrieblichen Abläufen auf dem kleinen Obsthof seines Sohnes, den dieser mit großem Einsatz in den vergangenen Jahren in der Nähe von Paris aufgebaut hatte. In dem gleichen Brief wandte er sich auch an seine Schwiegertochter, zeigte sich erfreut über ihr Verständnis „für alles Schöne in Natur und Kunst, besonders für die hohe Dichtkunst….“ Vorsichtige Kritik an den gegenwärtigen politischen Zuständen äußerte er, wenn er schreibt: „Nur wo die Seele im gleichen Rhythmus schwingt findet man solche Empfänglichkeit – nicht bei Banausen“1 und empfahl ihr das Buch von Oscar Wilde: „Intentions – Fingerzeige.“ Dieser Brief, kurz vor dem Tode seiner Frau geschrieben, verfasst in Zeiten großer Isolation und dem Verlust freundschaftlicher Beziehungen, schloss mit dem Ausdruck tiefer Zuneigung zu seinen Kindern und Großkindern: „…. Wie schwer ich unter unserer Trennung leide und wie es mich schmerzt, nicht zu Euch zu eilen und meine lieben Enkelchen nur kurz drücken zu können. Gebe Lore und Marion einen Kuß von Opa.“
Im Brief vom 27. Dezember 1938 bedankte sich Heinemann überschwänglich bei seinen Kindern für die Weihnachtsgeschenke (Illustrationen, glasierte Maronen), die auch von den anderen Hausbewohnern geschätzt worden seien. Erfreut zeigte er sich über den Pflanzplan, den sein Sohn Julius ihm geschickt hatte und bewunderte seine Leistung: „Wie viel Arbeit steckt doch in der Anlage und wie viel Arbeit wird noch die Erhaltung und Pflege erfordern!“3 Im Brief gab er seiner Hoffnung Ausdruck, dass Bruder Hermann ihn bald bei der Arbeit unterstützen werde und deutete an, wie groß die Freude war, als Herrmann aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen nach Hause entlassen wurde.
“Unsere Freude über die Heimkehr könnt Ihr Euch wohl denken. Hermann sah sehr mitgenommen aus, er erholt sich nun langsam und sein Haar wächst auch wieder langsam….“
Heinemann klagte auch über den übermäßigen Schriftverkehr mit den Ämtern. Er hoffe sehr, dass das nun doch zurückgehe, habe er doch noch nie „so viele Steuererklärungen und Hausbeschreibungen abzugeben brauchen, wie in diesem Jahr.“Er fand Trost bei dem Gedanken, dass seine Kinder in Frankreich ein angenehmeres Leben führen konnten: „von alledem merkt Ihr da draußen nichts und das ist ein Lichtblick…., habt die reizenden Kinder um Euch und seht ein Ziel vor Augen, baut Euch eine aussichtsreiche Zukunft auf….“
Heinemann selbst sah skeptisch in die Zukunft, als er schrieb: „…. Wie sich meine Zukunft gestaltet ist noch ungewiss…“ und verwies dann doch auf mögliche Hilfen aus dem Bekannten- oder Verwandtenkreis. Gleichzeitig teilte er seinen Kindern mit, wer aus diesem Kreis schon im Ausland sich befand oder plane, in Kürze Deutschland zu verlassen und verwies dabei auf die Ankunft von Hermann, der „Euch manche Aufklärung über unsere Lebensverhältnisse wird geben können.“
Im Geburtstagsbrief an Lili vom 1. April 1939 zeigte er sich glücklich über die „meisterlich ausdrucksvollen Bilder“ seiner Großkinder Lore und Marion, die er nun ständig vor Augen habe. Seinen Gesundheitszustand beschreibt er nur vage mit den Worten:
…gesundheitlich geht es mir einigermaßen. Nur mit dem täglichen Mittagsspaziergang hapert es bei dem Frost- und Schneewetter, da ich zu unsicher auf den Beinen bin und auch kein vernünftiges Schuhwerk mehr tragen kann.
In keinem der den Autoren vorliegenden Briefe erwähnte er den Tod seiner Frau Josephine, die am 9. September 1938 verstarb. Es bleibt also unklar, ob ihm spätestens mit Ableben seiner Frau eine Haushaltshilfe zur Seite stand oder ob ihn vielleicht seine Tochter Gertrud, die in Köln-Bayenthal wohnte, unterstützte.
Gut fünf Monate nach seinem Geburtstag starb Karl Heinemann am 23. August 1939 und wurde, wie vorher seine Frau, auf dem Jüdischen Friedhof in Uelzen beerdigt. Wie viele Menschen ihn zum Friedhof begleiteten wissen wir nicht. Trotz aller Widrigkeiten sorgte vermutlich seine Tochter Gertrud für die Aufstellung eines schlichten Grabsteins.
„Legalisiertes Unrecht“
Schon vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 war einer ihrer wichtigsten Forderungen, deutschen Bürger jüdischen Glaubens ihre wirtschaftlich Grundlage zu nehmen, sie an den Rand der Gesellschaft zu drängen, ihre soziale Existenz in Frage zu stellen. Das geschah vor und nach der Machtübernahme auf illegalem Wege, in dem der NS-Staat Terrorattacken paramilitärischer Verbände (SA, SS) duldete oder Pogrome, wie die am 9. November 1938, förderte. Doch langfristig erwies sich der legale jedoch nur scheinbar legitime Weg über Gesetze, Verordnungen, Anordnungen, deutsche Juden zu Parias der Gesellschaft zu machen, als sehr wirkungsvoll.
Der israelische Historiker Joseph Walk veröffentlichte 1981 eine Sammlung von über tausend Gesetzen, Verordnungen und Anordnungen, die deutsche Juden betrafen und die einzig und allein ihre Entfernung aus allen Bereichen der Gesellschaft zum Ziel hatten.
Der umfassende Ausschluss deutscher Juden aus der Gesellschaft ließ diese Menschen verarmen, hingegen bemächtigte sich der NS-Staat auf legalem Weg des Eigentums deutscher Juden, auf das er angewiesen war, um die Kriegsvorbereitungen und die dafür notwendige Aufrüstung voranzubringen. Auch Familie Heinemann war dieser staatlichen Willkür ausgesetzt, was im folgenden Kapitel an einigen Beispielen aufgezeigt werden soll.
Die Versteigerung des mobilen Eigentums der Familie Heinemann
Grundlage für die Versteigerung des Heinemann´schen Eigentums bei Ausschaltung der rechtmäßigen Erben war die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ vom 26. April 1938, die eine Totalerfassung jüdischen Vermögens ermöglichte und so eine Übersicht, Kontrolle und gegebenenfalls die Beschlagnahme des fremden Eigentum durch das Finanzamt erlaubte. So heißt es dort, dass „jeder Jude – und auch der nichtjüdische Ehegatte eines Juden ( ) sein gesamtes in- und ausländisches Vermögen anzumelden und zu bewerten (hat)…..“
Karl Heinemann klagte nicht zu Unrecht in einem Brief an seinen Sohn Julius über die Abgabe einer Vielzahl von Steuererklärungen und Hausbeschreibungen, die er in diesem Jahr (1938) hätte abgeben müssen. Dabei half ihm sein Sohn Hermann, der von 1936 bis 1939 in der Wohnung Ebstorfer Straße 37 zusammen mit seinen Eltern wohnte, diese Vielzahl von Erklärungen anzufertigen. Bald nach dem Tode Heinemanns fand in der großzügig angelegten Wohnung eine Versteigerung des gesamten mobilen Eigentums statt.1
Neben Vorraum, Küche und zwei Schlafzimmer fällt bei der Auflistung des mobilen Eigentums die „üppige“ Ausstattung der drei Wohnräume auf. So befanden sich in dem „Wohn- und Herrenzimmer“2 ein großer, geschnitzter Eichenschreibtisch samt Schreibtischstuhl, ein Bücherschrank sowie ein Geldschrank; im „Salon“ standen Möbel aus Ebenholz, die nach eigenen Plänen gefertigt wurden, das Wohn – und Esszimmer war möbliert mit einem Ausziehtisch, einem großen geschnitzten Büffet, sechs Stühlen, einem Chaiselongue und einem Klavier. Insgesamt verfügte die Wohnung über sieben Räume, die das Ehepaar Heinemann seit 1933 bewohnte.
Die Auktion wurde vom Uelzener Auktionator Richard Gerdau durchgeführt und der „erzielte Erlös an das Finanzamt Uelzen zur Bezahlung der restlichen Judenvermögensabgabe abgeführt….“ Die Versteigerung erfolgte im Auftrag des Justizrates Denker, der bei der Versteigerung durch seinen Bürovorsteher Heinz vertreten wurde, so Elisabeth Dreyer, lange Zeit Haushaltsgehilfe bei dem Ehepaar Heinemann, die als Zeugin vor dem Amtsgericht Uelzen 1962 aussagte. Das Amtsgericht Uelzen war im Rahmen eines Entschädigungsverfahrens, das Julius Heinemann gegen die Bundesrepublik Deutschland führte, um Amtshilfe gebeten worden. Frau Dreyer berichtete von einem sehr umfangreichen wertvollen Mobiliar, von wertvollen Bildern und Kristall. Das Mobiliar wurde, ihrer Aussage nach, trotz zweier Umzüge immer mitgenommen, obwohl es in den beiden Mietwohnungen gar nicht angemessen aufgestellt werden konnte. Weiterhin sagte sie als Zeugin aus, dass sie am Tage der Versteigerung nur kurz hereingeschaut und festgestellt habe, dass „ […] verhältnismäßig wenig Bieter vorhanden waren. Ich entsinne mich, dass ein älterer mir unbekannter Herr sehr viele Noten ersteigert hat. Im Übrigen habe ich mir keine Personen gemerkt, die Angebote abgegeben und Zuschläge erhalten haben.“
Vielleicht wollte sich Frau Dreyer auch gar nicht der Personen erinnern, die der Einladung des Justizrates Denker zu einer Versteigerung gefolgt waren, um in dem sehr persönlichen, intimen Umfeld einer ehemals bekannten Uelzener Familie sich deren Eigentum möglichst preiswert anzueignen, kurz „um ein Schnäppchen zu machen“. Neben Frau Dreyer wurde auch die Frau des Auktionators Gerdau, Elisabeth Gerdau angehört, die aber nur wenige sachdienliche Hinweise machen konnte, da ihr Mann 1945 verstorben war und „seine Geschäftsunterlagen infolge von Kriegseinwirkungen vernichtet wurden.“ Ihr Mann habe ihr damals gesagt, „dass er den Erlös an Justizrat Denker abgeführt hätte. Ich kann daher nicht sagen, ob irgendwelche Beträge an das Finanzamt noch weitergeleitet sind.“1 Der Zweifel Frau Gerdaus, ob Herr Justizrat Denker den Auktionserlös an das Finanzamt Uelzen weitergeleitet habe, kann nach heutigen Wissensstand ausgeräumt werden. Ganz sicher hat der Justizrat Denker den Versteigerungserlös an das Finanzamt Uelzen weitergeleitet „zur Bezahlung der restlichen Judenvermögensabgabe.“2 Leider verfügte auch der Rechtsanwalt Rose-Teblee keinen „handfesten“ Beleg, da die „Akten des Finanzamtes Uelzen [….] bei Einmarsch der alliierten Truppen vernichtet worden seien (sollen).“
Einbehaltung von Wertgegenständen
Frau Dreyer erinnerte sich auch an das Tafelsilber, das noch zu „Lebzeiten des Regierungsrates Heinemann […] an irgendeine Stelle abgeliefert wurde. Ich erinnere mich noch genau, das vor dem Abholen das wertvolle Tafelsilber auf dem Teppich zusammengestellt war.“
Es war nicht nur Tafelsilber, das Frau Dreyer ins Auge fiel. Auf dem Teppich oder auf dem Tisch lagen neben „Silbersachen auch Goldsache und Schmucksachen“ deren Materialwert mit knapp 1.600 RM bewertet und vergütet wurde. Diese Familienschätze, u. a. auch Schmuck, wurden jedoch nicht an „irgendeine Stelle“ abgeführt, sondern an die Stadtsparkasse Lüneburg abgeliefert, so Rechtsanwalt Rose-Teblee, in dem Schreiben vom 24. November 19545 an die Oberfinanzdirektion Hannover. Die Verifizierung dieser Behauptung des Rechtsanwaltes ist nach 80 Jahren nicht mehr möglich, da die Sparkasse Lüneburg 2020 in einem Schreiben dem Autor mitteilt, dass sie in ihren Archiven „[…] keine Unterlagen im Zusammenhang mit der „Judenvermögensabgabe von 1938“ feststellen (konnte)“. Ebenso ist es der Sparkasse nicht möglich nachzuvollziehen, “ob die damalige Stadtsparkasse Lüneburg die Gegenstände entgegengenommen hat.“
Es ist nicht sicher, ob es in Lüneburg eine Pfandleihanstalt gab, an die, wie auch in anderen deutschen Städten, jüdische Bürger ihre Silber- und Goldgegenstände abgeben mussten. So kann man nur vermuten, dass die Stadtsparkasse Lüneburg die besagten Gegenstände sammelte, um sie dann an die Leihanstalt nach Hannover weiterzugeben.
Verkauf des Hauses „Kleiner Hillen“ in Hannover zwecks Zahlung der Judenvermögensabgabe und der Reichsfluchtsteuer
Der Versteigerungserlös des Heinemann´schen mobilen Eigentums, der dem Uelzener Fiskus zuging, war jedoch nicht die erste Zahlung, die aus dem Hause Heinemann der Steuerbehörde zufloss. Schon vorher war Heinemann gezwungen worden, auf der Grundlage seines von ihm angegebenen Vermögens eine so genannte Judenvermögensabgabe zu zahlen, die auf der Grundlage der „Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit“ vom 12. November 1938 nun von allen steuerpflichtigen deutschen Juden3 erhoben werden konnte. Anlass für diese Verordnung war das Attentat auf den deutschen Gesandten von Rath in Paris durch den polnischen Juden Herschel Grynszpan. Diese Tat wurde von der NS-Regierung als „feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk und Reich“ gewertet die eine „entschiedene Abwehr und harte Sühne erfordert.“ Die festgelegte „Sühneleistung“ betrug eine Milliarde Reichsmark, zu der jeder steuerpflichtige Juden herangezogen und verpflichtet wurde, 20 Prozent, später 25 Prozent seines Vermögens in fünf Raten zu zahlen.
Aber nicht nur die „Judenvermögensabgabe“ sollte Heinemann und seine Erben belasten, auch die so genannte „Reichsfluchtsteuer“ erlaubte einen massiven finanziellen Zugriff, da der Fiskus von der Fiktion ausging, dass der 83 Jahre alte Karl Heinemann eventuell bei seinem Sohn Julius in Frankreich Zuflucht suchen könnte. Das zumindest unterstellte der Oberfinanzpräsident Hannover, als er mit Schreiben vom 22. August 1939 eine Sicherungsanordnung nach § 59 des Devisengesetzes erließ, „um zu verhindern, dass hierbei Vermögenswerte der Devisenbewirtschaftung entzogen werden.“
Diese so genannte Reichsfluchtsteuer wurde 1931 von der Regierung Brüning eingeführt, um die Kapitalflucht wohlhabender Bürger zu erschweren. Hierbei hatte man also kapitalkräftige Reichsbürger im Auge, die aus freiem Willen ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen wollten und ihr auf ausländische Konten deponierten. Das NS-Regime verkehrte dieses Steuerinstrument in sein Gegenteil. Die erwünschte oder erzwungene Auswanderung deutscher Juden oder gar nur ihre vermutete Absicht löste die Forderung des Fiskus nach einer „Sicherheitsleistung in Höhe der zu erwartenden Reichsfluchtsteuer“2 aus, die von den auswanderungswilligen deutschen Juden gezahlt werden musste.
Aus der Vermögensaufstellung vom 30. Juni 1938, die Karl Heinemann auf Anforderung des Finanzamtes Uelzen erstellte, geht hervor, dass das Ehepaar Heinemann über ein Gesamtvermögen von ca. 127.000 RM verfügte3, das sich nun aber auf Grund von Zwangsabgaben und der sich daraus ergebenen Zwangsverkäufen erheblich reduzierte und über das der bisherige Eigentümer nicht mehr frei verfügen konnte. So erhob das Finanzamt Uelzen nun eine Judenvermögensabgabe von 31.946 RM, die „auch beglichen worden ist.“
Am 22. Dezember 1938 verkaufte Karl Heinemann ein Haus in Hannover, das der mittlerweile verstorbenen Josephine Heinemann gehörte, für einen Kaufpreis von 22.000 RM. Das Geld wurde auf das Sperrkonto von Karl Heinemann überwiesen. Mit diesem Geld konnte die Sicherungshypothek von 15.000 RM ausgelöst werden, die am 27. Mai 1938 auf das Grundstück in Hannover eingetragen worden war und laut Finanzamt Uelzen der Sicherung „fälliger oder noch fällig werdender Ansprüche aus der Reichsfluchtsteuer und sonstiger vor der Ausreise zu entrichtender Abgaben“ diente.
Darüber hinaus musste die Erbengemeinschaft Heinemann der Käuferin des Hauses 2.000 RM „als Honorar für die Verwaltungstätigkeit der Frau Meyer“ zahlen, so dass ein Restbetrag von ca. 5.000 RM übrig blieb, der sich aber auf einem Sperrkonto befand, von dem Heinemann nur mit Zustimmung des Oberfinanzpräsidenten Hannover einen Betrag abheben durfte. Ob sich der NS-Staat das Heinemannschen Restvermögen mittels der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom November 1941 aneignete, konnte an Hand der vorliegenden Unterlagen nicht abschließend geklärt werden.
Das Ende
Karl Heinemann und seine Frau Josephine haben den staatlichen Terror miterlebt, blieben jedoch von unmittelbarer physischer Gewalt verschont. Josefine Heinemann verstarb am 9. September 1938 im Alter von 76 Jahren, ihr Ehemann folgte ihr ein knappes Jahr später am 23. August 1939 im Alter von 83 Jahren. Die Söhne Hermann und Julius lebten in Frankreich bis 1944 in der Illegalität.
Hermann wohnte nach Kriegsende zunächst in Paris, hielt sich aber auch zeitweilig in Deutschland auf. Er starb am 19. September 1958 in Freiburg/Breisgau.
Julius kehrte zusammen mit seiner Frau und seinen drei Kindern zunächst zurück auf die Obstplantage in Villier sur Orge. Anfang der fünfziger Jahre jedoch wanderte die Familie nach Australien aus. Dort starb Lili Heinemann am 2. Februar 1956, Julius Heinemann am 14. September 1968.
Tochter Gertrud, die zusammen mit ihrem Mann Siegfried Menge in Köln wohnte, war bereits am 18. Dezember 1943 in Köln eines natürlichen Todes gestorben.
Marion Heinemann, die jüngere Tochter der Familie Julius Heinemanns, lebt in Australien wie auch die zwei Töchter der älteren Schwester Laura , die am 14. August 1957 im Alter von 25 Jahren verstarb.
Epilog
Nach 80 Jahren wandte sich die Enkeltochter einer der Versteigerungsteilnehmer an die Geschichtswerkstatt Uelzen e. V. und berichtete, dass nach Erzählungen ihres Vaters ihr Großvater wahrscheinlich Ende der 1930er Jahre auf einer Auktion in Uelzen Möbel erworben hat.
„Es hieß, die Möbel stammten aus einem jüdischen Haushalt in Uelzen…. Auf die Frage, was mit der jüdischen Familie passiert war, deren Möbel versteigert wurden, wusste mein Vater keine Antwort. Mein Bruder und ich stellten uns fortan vor, dass die Möbel möglicherweise mit einem tragischen Schicksal der jüdischen Familie verbunden waren. Als wir uns nach dem Tod unserer Eltern mit der Erbschaft auseinandersetzen mussten, fanden wir im Nachlass weitere Gegenstände aus einem jüdischen Haushalt. Es handelt sich hierbei um verschiedene Bücher, die auch aus dem Hause Karl Heinemann stammten. Weder mein Bruder noch ich konnten uns vorstellen, die Gegenstände aus dem jüdischen Haushalt im Rahmen der Erbschaft zu übernehmen.
Neben diesen eher biographischen Überlegungen wie auch moralischen Bedenken gesteht Frau M., dass in ihrem Elternhaus „[…] diese Möbelgarnitur aus Rosenholz immer ein wenig fremd (blieb)…. Sie [die Möbelgarnitur d. V.] verwies auf einen großbürgerlichen Einrichtungsstil, den es im Haus meiner Eltern sonst nicht gab.“
Aus diesem Unbehagen heraus erwuchs der Wunsch der Geschwister M. „die Möbel und Bücher gerne an den ursprünglichen Besitzer bzw. ihre Nachkommen zurückgeben oder die Objekte einer Organisation spenden, die sich mit der Geschichte und dem Schicksal der Uelzener Bürger jüdischen Glaubens auseinandersetzt….. “. Die Geschichtswerkstatt Uelzen e.V. würde auch anderen interessierten Bürger*innen aus Stadt und Landkreis Uelzen, denen die Herkunft von in ihrem Besitz befindlichen Möbeln, Gemälden, Geschirr, Kunstgegenständen nicht bekannt ist und die sich fragen, ob diese Gegenstände eventuell aus jüdischem Besitz stammen könnten, bei der Suche nach rechtmäßigen Eigentümern behilflich sein.